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Die Repression gegen G20-Gegner*innen nimmt kein Ende – ein politisches Großverfahren gegen mindestens 86 linke Aktivist*innen, angeklagt durch die Staatsanwaltschaft Hamburg, steht an. Hintergrund ist die Zerschlagung eines Demonstrationszuges am 6. Juli 2017 auf der Straße „Rondenbarg“ in Hamburg durch die für Gewaltausbrüche bekannte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Blumberg der Bundespolizei.
Im September vergangenen Jahres ging die erste Anklageschrift an 19 Demonstrant*innen raus, die zum Zeitpunkt des Gipfeltreffens in Hamburg noch unter 21 Jahre alt waren. Mittlerweile ist die Zahl der Angeklagten insgesamt auf 86 Personen, verstreut über das gesamte Bundesgebiet, gestiegen. Aufgeteilt in 8 Verfahrensgruppen, werden ihnen mehrere Straftaten wie schwerer Landfriedensbruch, Angriff auf Vollstreckungsbeamte, versuchte gefährliche Körperverletzung und Bildung bewaffneter Gruppen vorgeworfen – einige dieser Strafgesetze wurden erst kurz vor dem Gipfel verschärft. Mehrjährige Haftstrafen stehen im Raum.
Aufgrund der umfangreichen Anklageschrift und der darin enthaltenen hohen Anzahl an Zeug*innen, hauptsächlich Polizist*innen, wird von einer Prozessdauer von mindestens einem, eher jedoch mehreren Jahren ausgegangen. Die Betroffenen werden während dieses Zeitraumes wahrscheinlich ein bis zwei Mal pro Woche in Hamburg vor Gericht erscheinen müssen. Für viele wird dies wegen der weiten Entfernung zum Wohnort weitreichende sozialen Konsequenzen wie Arbeits- und Ausbildungsplatzverlust und Trennung vom derzeitigen Umfeld, von Freund*innen und Familie, mit sich bringen. Wann die Prozesse losgehen und mit welchen Gruppenverfahren begonnen wird, ist bisher nicht bekannt. Die Anklageschriften selbst ähneln sich. Mithilfe des Konstrukts der „gemeinschaftlichen Tat“ wird eine Verurteilung ohne konkret individuellen Strafnachweis anvisiert. Diese Vorgehensweise soll demnächst bereits beim Elbchaussee-Verfahren, dessen Urteilsverkündung auf den 10. Juli 2020 datiert ist, durchgesetzt werden. Ähnliche Argumentationsmuster gab es in jüngster Vergangenheit auch bei Gerichtsverfahren zu Hausbesetzungen.
Im Rahmen der Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“ wird für den Samstag vor dem ersten Prozesstag – bislang Tag X – zu dezentralen Aktionen in verschiedenen Städten aufgerufen. So ist zum Beispiel bereits eine Demo in Berlin und eine Kundgebung in Braunschweig angekündigt. Alle weiteren dezentralen bundesweiten Aktionen werden auch hier gesammelt: gemeinschaftlich.noblogs.org/aktionen. Auch Plakate, Flyer und Aufkleber sind im Umlauf. Die Rote Hilfe intensiviert unter anderem die G20-Spendenkampagne, siehe dazu den Mitgliederrundbrief und die Rückseite der Ausgabe 02/2020 oder rote-hilfe.de/aktiv-werden/spenden. Ebenso geht die Vernetzung von Betroffenen und solidarischen Strukturen voran. Dabei wird auch an daran gearbeitet, die Prozesse in der Öffentlichkeit politisch zu begleiten. Nur mit praktischer Solidarität können wir die Verfahren in Verbindung mit konsequenter Aussageverweigerung zu einem Desaster für Polizei und Staatsanwaltschaft machen.
Hintergrund
Bekannt geworden ist „Rondenbarg“ durch den Prozess gegen den damals 18-jährigen Fabio V., der deswegen knapp 5 Monate in U-Haft saß. Damals ging es insbesondere um die Anwendung des 2017 erlassenen „Hooligan-Urteils“ des Bundesgerichtshof (BGH), nach dem die Angeklagten allein aufgrund ihrer Anwesenheit für alle Vorfälle mitverurteilt werden können – und das, obwohl der BGH die Übertragung auf politische Versammlungen explizit ausschloss. Die Diskussion vor Gericht war auch von ursprünglichen Nazi-Paragraphen und Phrasen wie „schädlicher Neigungen“ und „Erziehungsmängel“, seit 1953 §17 des Jugendgerichtsgesetzes, charakterisiert. Gut möglich, dass auch Fabios Verfahren bei den anstehenden Massenprozessen wieder von Neuem startet. Eine Zusammenfassung zu seinem im Februar 2018 geplatzten Prozess findet sich hier: unitedwestand.blackblogs.org/zusammenfassung-prozess-gegen-fabio.
Mit den Rondenbarg-Verfahren bauen die Repressionsorgane nicht nur ein massives Angstszenario auf, um die Betroffenen einzuschüchtern und auch andere Aktivist*innen von zukünftigen Teilnahmen an Protesten abzuschrecken. Damit würde ebenfalls ein „Kollektivschuldprinzip“ etabliert, sodass, wenn es zu Verurteilungen kommt, bei kommenden Demonstrationen auf diese Präzedenzfälle verwiesen werden kann. Dadurch wäre das grundlegende Recht auf Versammlungsfreiheit erneut massiv beschnitten. Die kürzlich losgetretene Öffentlichkeitsfahndung der Polizei in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ vom Juni 2020, in der wirre Zusammenhänge zwischen brennenden Autos des Polizeidirektors und zum G20 mit „operativen Aufgaben“ betrauten Enno Treumann 2016 und der Demonstration am Rondenbarg konstruiert werden, zeigt erneut den Verfolgungswillen und Deutungskampf staatlicher Behörden, um Gewaltanwendungen ihrerseits zu rechtfertigen und Stimmung gegen Demonstrant*innen zu machen, die sich einem Gipfel zur Sicherung mörderischer kapitalistischer Interessen entgegengestellt haben.
Die anstehenden politisch motivierten Verfahren reihen sich ein in die seit dem Gipfel fortdauernde Repression gegen G20-Gegner*innen. So gab es erst am 29. April wieder eine Hausdurchsuchung in Hamburg mit G20 als Vorwand. Ebenfalls im April 2020 fand der Berufungsprozess von Toto statt. Er wurde nach der gewaltsamen polizeilichen Zerschlagung der angemeldeten „Welcome to Hell“-Demo festgenommen. Das Urteil lautete ein Jahr und zwei Monate auf vier Jahre Bewährung, plus 1000 Euro Geldstrafe und Zahlung von 50 Prozent der Prozesskosten: Prozessbericht und Statement dazu: kiel.rote-hilfe.de/2020/04/17/prozessbericht-und-statement. Coronabedingt ist die Zahl der Unterstützer*innen bei derzeitigen Prozessen stark beschränkt und mit Personalienabgabe verbunden – wie aktuell beim Elbchaussee-Verfahren.
Bleiben wir gemeinschaftlich widerständig. Überlassen wir den Ausgang der G20-Proteste nicht der herrschenden Klasse, die ihr ausbeuterisches System verteidigen wollen.
Schreibt der Kampagne unter gemeinschaftlich@riseup.org (Schlüssel findet sich auf der Webseite: gemeinschaftlich.noblogs.org/kontakt) oder der Roten Hilfe, wenn ihr Aktionen plant, euch vernetzen wollt, Ideen oder Infos habt!
Gemeinsam sind wir stark!
Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“
Juli 2020