Prozessbericht 01 vom 18.01.2024

Der Prozess findet im Hochsicherheitssaal des Landgerichts Hamburg statt. Der Publikumsbereich mit etwa 100 Plätzen ist durch eine massive Glasscheibe und ein Gitter vom Gerichtsbereich abgetrennt.

Der Prozess beginnt mit einer Verspätung von etwa 1,5 Stunden. Grund dafür sind umfangreiche Einlasskontrollen, die das Gericht angeordnet hatte. Die Besucher*innen des Prozesses müssen durch einen Seiteneingang in das Gericht, ihre Sachen werden durchleuchtet, sogar die Schuhe müssen ausgezogen werden. In das Gericht kann nur Papier und Stift mitgenommen werden. Der Publikumsbereich ist, neben Pressevertreter*innen, komplett mit solidarischen Prozessbeobachter*innen gefüllt.

Das Gericht besteht aus den drei Berufsrichter*innen Sonja Boddin, Dr. Julian Pohle und Jochen Werner sowie zwei Schöff*innen. Die Staatsanwaltschaft wird vertreten von Staatsanwältin Meesenburg und Staatsanwalt Sadek Helfen. Zu Beginn wird von der Richterin die Anwesenheit der Angeklagten festgestellt. Ein*e der Angeklagten ist nicht erschienen. Ihr Verfahren wird von dem Prozess abgetrennt mit dem Argument, dass sowieso noch weitere Prozesse im Rondenbarg-Kontext stattfinden würden. Die Richterin stellt fest, dass eine enorme „rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung“ stattgefunden hat, da die Anklageschrift vom 26.09.2019 ist. Diese Wartezeit auf den Prozess sowie die langen Fahrzeiten zum Prozess stellen eine erhebliche Belastung für die Angeklagten dar, die aus dem gesamten Bundesgebiet nach Hamburg anreisen müssen. Die Richterin stellt auch die Frage, ob der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem Verfahren steht, bei dem nach mehr als sechseinhalb Jahren wegen der Verfahrensdauer auch keine hohen Strafen mehr im Raum stehen. Es gehe laut der Richterin vor allem um die Frage des Schuldspruchs. Die Richterin will die grundsätzliche Frage klären, was Protest darf, was eine „normale“ Demonstration ist und wo die Grenze überschritten sei.

Es folgt dann die Personalienfeststellung der verbliebenen fünf Angeklagten. Danach wird von der Staatsanwaltschaft die Anklageschrift vorgetragen. Darin werden die Betroffenen unter anderem nach §125 Landfriedensbruch angeklagt, da ihnen vorgeworfen wird, sich am 7.07.2017 durch dieselbe Handlung gemeinschaftlich in einem „besonders schweren Fall an Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen sowie Bedrohungen von Menschen mit Gewalttätigkeiten, die aus einer Menschenmenge (…) begangen wurden, als Täter beteiligt zu haben“. Die Staatsanwaltschaft wirft den Angeklagten vor, „sich im bewussten und gewollten Zusammenwirken aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes, der einen taktischen Erwägungen folgenden Aufmarsch unterschiedlich farblich gekennzeichneter Gruppen vorsah, um hierdurch und durch von vorneherein unfriedlich und gewaltbereites Auftreten gezielt Polizeikräfte provozieren, binden und – wie alle Teilnehmer wussten oder jedenfalls billigend in Kauf nahmen – auch gewaltsam attackieren zu können.“

Die Staatsanwaltschaft sieht die Geschehnisse am Rondenbarg nicht als Demonstration, sondern spricht von einem Aufmarsch, der in geschlossener Formation marschiert sei. Weiter führt die Staatsanwaltschaft aus, dass „ein Angriff mit 14 Steinen und mindestens vier pyrotechnischen Gegenständen erfolgte (…) Polizeibeamte nicht feststellbar verletzt wurden“ Ein Sachschaden durch Kratzer im Lack von zwei Autos ist in Höhe von insgesamt 3.546,75 Euro entstanden.

Bei einer Angeklagten war vor dem Prozess ein Antrag auf Einstellung des Verfahrens gestellt worden, der jedoch von der Staatsanwaltschaft abgelehnt wurde.
Die Richterin hätte die Einstellung gegen eine „symbolische Geldbuße“ und eine allgemeine „Distanzierung von Gewalt“ akzeptiert. Die Staatsanwaltschaft beharrte jedoch auf einer konkreten Distanzierung der Angeklagten von „Gewalttaten“, die angeblich durch Demonstrierende am Rondenbarg begangen worden seien. Zur Frage des Gerichts, ob eine Einstellung in diesem Fall jetzt möglich sei, meint die Staatsanwaltschaft, das sei prinzipiell möglich, es sei lediglich die genaue Distanzierungsformulierung zu klären.

Die Verteidigung stellt einen erneuten Antrag auf sofortige und bedingungslose Einstellung des Verfahrens mit der Begründung, dass es gegen das Rechtsstaatsprinzip aus Art 20 Abs. 3 GG verstößt. In dem Antrag heißt es: „Das Bild, das die Anklageschrift von meiner Mandantin und den weiteren Angeklagten zeichnet, steht sinnbildhaft dafür, wie Polizei und Strafverfolgungsbehörden – gegen alle rechtsstaatlichen Grundsätze – versuchen, unliebsamen Protest zu kriminalisieren. Dies zeigt sich vor allem in einem Verständnis der grundgesetzlich geschützten Versammlungsfreiheit durch die Exekutive, das einem demokratischen Rechtsstaat nicht würdig ist.“ Weiter heißt es darin „Keiner der hier auf der Anklagebank sitzenden Personen wird vorgeworfen, unfriedliche Handlungen oder gar Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begangen zu haben. Trotzdem unterschlägt die Staatsanwaltschaft einfach eines der wesentlichen Kriterien in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung zum Schutz des Versammlungsrechts, dass nämlich das unfriedliche Verhalten Einzelner keinesfalls dazu führen kann, der gesamten Versammlung den Schutz von Art. 8 GG zu entziehen, beziehungsweise alle Demonstrationsteilnehmer*innen zu kriminalisieren.“

Außerdem wird ausgeführt: „Es ist daher rechtlich schlicht unzulässig, was die Staatsanwaltschaft hier zur Begründung der Strafverfolgung ins Feld führt: Sie bedient sich eines Urteils des Bundesgerichtshofs, das selbst zurecht eine klare Unterscheidung zwischen einem Demonstrationsgeschehen und einer verabredeten Massenschlägerei vornimmt, um dann – ohne tatsächliche Anhaltspunkte – zu behaupten, die festgenommenen Personen, die gegen den G20-Gipfel protestiert haben, könnten sich nicht auf das Versammlungsrecht berufen, da sie allein das Ziel gehabt hätten, die Polizei anzugreifen. Das ist Feindrecht und hat nichts mit einer Bindung der Exekutive an Recht und Gesetz zu tun.“

Seitens der Anwältin wird nochmals detailliert nachgezeichnet, wie sehr der damalige Hamburger Senat von Anfang an auf Eskalation gesetzt hat: durch die Ernennung von Hartmut Dudde zum verantwortlichen Polizeiführer, der unter dem Rechtsradikalen Schill Karriere gemacht hatte sowie unter anderem durch Demoverbotszonen, Campverbote, polizeiliche Aufrüstung und den in diesem Szenario folgerichtigen brutalen Angriff durch die Polizei auf die Vorabend-Demo „Welcome to Hell“ mit vielen Verletzten.

Die Argumente der Staatsanwaltschaft, dass es sich bei der Demonstration am Rondenbarg nicht um eine Versammlung handeln könne, weil diese a) nicht angemeldet gewesen sei und b) an einem für eine Versammlung nicht geeigneten Ort stattgefunden hätte, werden als rechtlicher Unsinn zurückgewiesen.

In den Ausführungen wird wiederholt auf das sogenannte Brokdorf-Urteil von 1985 sowie die Liberalisierung des Demonstrationsrechts Anfang der 1970er Jahre verwiesen, die jetzt wieder auf den Stand der 1960er Jahre zurückgedreht werden soll.

Dass die Staatsanwaltschaft für eine Einstellung bislang darauf beharrt, die Angeklagten sollten sich von den von ihnen begangenen Gewalttaten am Rondenbarg distanzieren, wird schon alleine deswegen als absurd dargestellt, da den Angeklagten ja keine konkreten gewaltsamen Handlungen vorgeworfen werden, von denen sie sich überhaupt distanzieren könnten.

Der vollständige Antrag der Verteidigung kann hier nachgelesen werden.

Die Anwält*innen aller anderen Angeklagten schließen sich dem Antrag auf sofortige Einstellung des Verfahrens an.

Die Richterin weist darauf hin, dass geplant ist den Protestforscher Sebastian Haunss als Sachverständigen zu laden, der bereits beim Elbchaussee-Verfahren beteiligt war. Er soll zum Thema Fünf-Finger-Taktik und Protestformen sprechen.

Es wird von zwei Angeklagten eine Prozesserklärung verlesen, die von allen Angeklagten gemeinsam getragen wird und lauten Applaus aus dem Publikum findet. In der Erklärung wird nochmals deutlich gemacht, warum die Proteste gegen G20 richtig und wichtig waren – und dass es notwendig ist weiterhin zu protestieren, um eine Welt zu verwirklichen, „in der Menschen nicht vor Hunger sterben, obwohl es genug zu essen gibt, in dem sich niemand unter Bombenhagel zur Nachtruhe legen muss, in der diese Grausamkeiten zur Vergangenheit gehören, in der die Natur geschützt wird und in der alle zusammen ein menschenwürdiges Leben führen können“. Die Erklärung ist hier zu finden.

Nach der Mittagspause verkündet das Gericht, dass der Antrag auf Einstellung abgewiesen wird. Es bestehe kein Verfahrenshindernis.

Es folgen mehrere Opening Statements der Verteidigung. Das erste wird von Anwalt Sven Richwin gehalten, er geht darin auf die berüchtigte Einsatzhundertschaft der Bundespolizeiabteilung aus Blumberg ein, die in dem Geschehen am 07.07.2017 eine zentrale Rolle spielt. Darin führt er aus: „Immer wieder erleben wir vor Berliner Gerichten, dass sich Beamt*innen in ziviler, vermeintlich „angepasster Bekleidung“ als sogenannte Tatbeobachter*innen, sogenannte „Tabos“, unter Teilnehmer*innen von Versammlungen gemischt haben.“ Außerdem sagte er: „Im vorliegenden Verfahren besteht nunmehr die Gefahr, dass verdeckte Polizeibeamte nicht nur an der Schaffung einer Einsatzgrundlage teilhaben, sondern durch ihr Agieren, sogar eine Strafbarkeit für Personen begründen können, die selbst gar keine Straftaten begehen.“ Das gesamte Opening Statement kann hier nachgelesen werden.

Ein weiteres Opening Statement wird vom Anwalt Adrian Wedel gehalten. Darin führte er aus: „Die Anklageschrift spricht den Angeklagten ihre Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit pauschal ab. Ihnen sei es nur um Krawall gegangen. Eine Verurteilung der Angeklagten mit Hilfe des Konstruktes der Staatsanwaltschaft Hamburg hätte zur Folge, dass jede und jeder auf einer Demonstration, die an irgendeiner Stelle unfriedlich verläuft, mit in Haftung genommen wird.“ Das komplette Statement ist hier zu finden.

Danach folgt noch das Opening Statement des Anwalts Ulrich von Klinggräff. Er führt aus: „Unsere Mandantin wurde wie eine Schwerverbrecherin behandelt. Darüber wird in diesem Verfahren noch zu sprechen sein. Sie wurde dem Haftrichter vorgeführt und für zehn Tage in Untersuchungshaft gesteckt. Nicht etwa, weil behauptet wurde, sie habe selber Gewalt angewendet. Das wurde ihr und den anderen Angeklagten nie vorgeworfen. Der Vorwurf des Mitlaufens in der Demonstration, die als solche nicht bezeichnet werden darf und die dann mit massiver Polizeigewalt zerschlagen worden ist, war hierfür ausreichend.“ Des Weiteren stellte er klar: „Die Staatsanwaltschaft Hamburg agiert in den Rondenbarg-Verfahren mit einer eigenen politischen Agenda. Sie hat sich dazu entschieden, aus meiner Mandantin und den anderen Angeklagten Polit-Hooligans machen zu wollen. Ziel der Staatsanwaltschaft ist es, Rechtsgeschichte schreiben zu wollen. Die Uhr soll zurückgedreht werden. Die Staatsanwaltschaft Hamburg möchte mit Hilfe der Strafgerichte stattdessen Axt an das Demonstrationsrecht legen und erreichen, dass a) grundsätzlich das Versammlungsrecht nach Art 8 GG eingeschränkt wird und b) strafbares Verhalten einzelner Demonstrationsteilnehmer*innen allen anderen Demonstrierenden kollektiv zugerechnet werden kann. Ein zulässiges und grundgesetzlich geschütztes Verhalten soll hier umdefiniert werden in einen unbenannten besonders schweren Fall des Landfriedensbruchs. Das Mitlaufen in einer Demonstration, bei der einzelne Personen Steine geworfen haben sollen, soll automatisch zur Strafbarkeit führen. Es ist das „Feindbild Demonstrant“, jedenfalls der linken Demonstrierenden, welches aufgerufen wird.“ Das komplette Statement findet sich hier.

Der Anwalt Schwieger geht auf die Aussage der Richterin ein, dass es bei dem Prozess nicht um die Strafe gehen würde. Dies trifft auf seine Mandantin nicht zu, da es bei ihr um alles geht. Der Ausgang des Rondenbarg-Verfahrens ist mit ihrem offenen Aufenthaltsverfahren verknüpft. Falls es zu einer Verurteilung käme, würde sie abgeschoben werden.

Die Richterin führt nach dem Ende des ersten Verhandlungstages ein Gespräch außerhalb der Hauptverhandlung mit allen Verfahrensbeteiligten.