Prozessbericht 11 vom 11.04.2024

Der Prozess beginnt um 9:30 Uhr im Saal 288, obwohl noch fünf Zuhörer*innen auf Einlaß warten und die Öffentlichkeit somit nicht hergestellt ist. Zuhörer*innen machen lautstark darauf aufmerksam. Richterin Boddin sagt, dass sie darauf keine Rücksicht nehmen werde. Anwesend sind Richter*innen Boddin, Pohle und Werner, die drei Schöff*innen, Anwält*innen Schrage, Rohrlack, Wedel und Richwin, Staatsanwältin Meesenburg und die beiden Angeklagten. Letztlich sind etwa 25 Prozessbeobachter*innen da.

Zuerst erfolgt eine Erklärung der StaatsanwaIltschaft zur Aussage des Polizeizeugen Jokschat vom letzten Prozesstag: Er hätte ausgesagt, es habe an der Straßenecke Schnackenburgallee/Rondenbarg einen „kurzen aber heftigen“ Bewurf mit Steinen und Pyro gegeben – 10 bis 20 Gegenstände in 10 bis 15 Meter Wurfweite. Schäden an seinem Fahrzeug habe er später nicht feststellen können. Er sei im ersten Fahrzeug in der Kolonne gewesen. Er hätte die Demo aufstoppen sollen und Kontakt mit einem eventuellem Versammlungsleiter aufnehmen sollen. Er schickte eine Gruppe zu Fuß hinterher und habe dann Polizeifahrzeuge hinter der Demo herfahren lassen. Er habe erst keinen Kontakt zur BFE aus Blumberg gehabt, seine Einheit habe im Rondenbarg Personen festgenommen und Gegenstände sichergestellt und dann an die Blumberger Einheit übergeben, um selbst zu einem anderen Einsatzort zu fahren. Die Aussage des Beamten sei im Einklang mit einem Wasserwerfer-Video, wo Rauch und Gegenstände zu sehen seien. Der Zeuge, der lediglich einen Streifenwagen an der Ecke gesehen haben will, hätte sich insofern geirrt.

Danach erfolgt eine Erklärung des Anwalt Wedel zur Aussage des Zeugen Roman J., der die Demo von einem Firmengelände in der Schnackenburgallee 42 aus wahrgenommen habe: Er fand die Situation nach eigenem Bekunden „lustig“ und habe erstmal sein Handy geholt. Er habe ausgesagt, die Demo sei schnell in den Rondenbarg abgebogen, habe nur Schrittgeräusche gehört, keinen Bewurf beziehungsweise Aufprall von Gegenständen auf dem Asphalt, keine Böller. Auch sein Video zeigt keinen Einsatz von Rauchtöpfen. Die Pflastersteine auf dem Firmengelände konnte er nicht der Versammlung zuordnen. Den Wurf illegaler, besonders lauter „Polenböller“ konnte überhaupt kein Zivilzeuge erinnern. Der Zeuge Daniel D. hatte bekundet, dass die Versammlung in dem Moment, in dem das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge der Polizei sichtbar wurde schnell in den Rondenbarg abgebogen ist, da die Personen seinem Eindruck nach ein Zusammentreffen mit der Polizei vermeiden wollten. Dies deckt sich mit den Beschreibungen des Zeugen Roman J. dazu, dass sich die Personen schnell in Richtung Rondenbarg bewegt haben und außer den Schrittgeräuschen keine anderen Geräusche zu hören waren. Seine Aussage steht im Widerspruch zu der des Polizeizeugen Jokschat, der einen „kurzen aber heftigen“ Bewurf wahrgenommen haben will.

Zum Zeugen Jokschat führt Anwalt Wedel weiter aus: Er sei vorher bei der „Welcome to Hell“-Demonstration eingesetzt gewesen, und nach eigenem Bekunden übermüdet und schlecht versorgt, was „nicht mit dem Arbeitsschutz vereinbar“ gewesen sei. Es sei nicht auszuschließen, dass sich seine Erinnerungen von verschiedenen Einsatzorten vermischt haben. Seine schriftliche Aussage habe er erst zwei Monate nach dem Einsatz gemacht – normalerweise erfolge sie bei Bewurf unmittelbar nach dem Einsatz. Auch habe er sich mit Kollegen ausgetauscht und in anderen G20-Verfahren Aussagen gemacht, die widersprüchlich sind. Fotos und Videos zeigen keinen „massiven Bewurf“. Er habe vom Farbkonzept des G20-Protests gewusst und ihm sei die Farbe schwarz zugeordnet worden. Er habe keinen besonderen Charakter dieser Versammlung festgestellt und habe keine Warnung über den Einsatzkanal bekommen.

Als erster Zeuge dieses Prozesstags wird der Polizeihauptkommissar Kawohl in Hamburger Polizeiuniform mit drei silbernen Sternen gehört. Er sei am besagten Tag als ziviler Aufklärer in einem schwarzen Mercedes-Kleinbus ein Stück weit hinter der Demo hergefahren, als zirka drittes Fahrzeug. Dies sei von der Ecke Sylvesterallee/Schnackenburgallee bis zur Autobahnauffahrt der Fall gewesen. Die Demo bestand seiner Aussage nach aus 200 bis 300 Leuten und sei Richtung Süden gelaufen. Die meisten Leute seien schwarz gekleidet gewesen. Im Gegenverkehr konnten Autos ungehindert fahren. Am rechten Fahrbahnrand hätten zerkleinerte Steine gelegen, ansonsten sei ihm nichts aufgefallen.

Er kann sich auch auf Vorhalt der Richterin an vieles nicht mehr erinnern. Ob Leute in die Demo rein- oder aus ihr rausgingen, ob es Leute mit Warnwesten gab, ob Gesichter zu erkennen waren oder viele vermummt waren, an all das hätte er keine Erinnerung mehr. Auch an etwaige auf die Straße gezogene Gegenstände kann er sich nicht mehr erinnern. Der Zeuge sagt, dass er gefährliche Gegenstände normalerweise in seinen Einsatzprotokollen vermerke.

Anwalt Schrage befragt ihn zu seinen Dienstzeiten. Er habe die Tage „mehr oder weniger durchgearbeitet“. Laut seiner damaligen Vernehmung war er seit zwei bis drei Stunden im Einsatz. Er habe zur Vorbereitung Lageinfos vom LKA 7 (Staatsschutz) erhalten, könne sich aber nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Seine eigene Dienststelle führe keine Akten.

Aus der Akte geht hervor, dass er der zweite in einer Art Observationskette gewesen sei: Der Beamte Thordsen meldete ihm zu Fuß, dass die Demo aus dem Camp rausging, dann übernahm er und nach der Autobahnauffahrt übernahm seine Kollegin Groth die Observation der Demo. Von beiden Zeug*innen gibt es Aussagen in den Akten, beide sind aus Krankheitsgründen nicht gerichtlich vernehmbar. Ein weiterer Zivilbeamter ist inzwischen sogar verstorben. Kurz geht es noch um einen Polizisten Lange, den Kawohl unterwegs laut Akten zusteigen ließ, aber auch dazu hat der Zeuge keine konkrete Erinnerung mehr, wo das war und was der Kollege für Kleidung trug. Zu internen polizeilichen Belangen wie Personalstärken und taktischen Fragen habe er keine Aussagegenehmigung. Eine allgemeine Aussagegenehmigung gibt es per Stempel unter der Ladung. Kawohl hatte bereits beim Verfahren gegen Fabio ausgesagt. Ende der Vernehmung.

Nach einer zehn minütigen Pause werden durch die Staatsanwältin bearbeitete Video-Screenshots von bereits bekannten Videoaufnahmen eines Wasserwerfers gezeigt. Sie sollen einen Bewurf der Eutiner BFE Schnackenburgallee Ecke Rondenbarg belegen. Zwei Gegenstände auf der Fahrbahn sind dort rot markiert. Auf einem anderen Screenshot eines bekannten Handyvideos ist ebenfalls ein Gegenstand auf der Schnackenburgallee rot markiert. Dieser befindet sich allerdings auf der Demoroute etwa 30 Meter von der Rondenbarg-Einmündung entfernt – also an einer Stelle in der die Eutiner BFE sich nie befand. Die Staatsanwältin geht davon aus, dass auf den Videoaufnahmen insgesamt fünf Gegenständen zu sehen sind die auf die Eutiner BFE geworfen sein sollen. Die Verteidigung widerspricht.

Es geht noch kurz darum, dass für die Polizistin Groth ein offizielles Attest ihrer Vernehmungsunfähigkeit wegen Krankheit fehlt und die Richterin gibt den Verfahrensbeteiligten das Selbstlesen einiger Vernehmungsprotokolle als Hausaufgabe mit.

Nach der Mittagspause, die von 11:20 Uhr bis 12:50 Uhr dauert, stellt sich heraus, dass die Verteidiger*innen nicht die aktuelle Zeug*innenliste erhalten haben. Die Richterin will dennoch die nächste Zeugin vernehmen, da sie extra aus Baden-Württemberg angereist sei.

Polizeibeamtin Wöhler ist Kriminalbeamtin aus Waldshut bei Freiburg in Baden-Württemberg. Sie ist nicht beim Staatsschutz angestellt, sondern bearbeitet normalerweise Tötungs- und Sexualdelikte, wurde nach G20 ab dem 17.07.2017 für ein und ein viertel Jahr der Soko „Schwarzer Block“ in Hamburg zugeordnet. Dort gehörte sie zum „Team 1“, dass den „Rondenbarg-Komplex“ „aufklären“ sollte. In in der Soko „Schwarzer Block“ waren insgesamt bis zu 180 Beamt*innen beschäftigt.

Es sei ihre Aufgabe gewesen, Personen aus Videomaterial „herauszuschneiden“ und zu identifizieren und die Hausdurchsuchungen wegen Rondenbarg am 05.12.2017 vorzubereiten und durchzuführen. Des Weiteren sollte sie überprüfen, ob Bushaltestellen auf dem Weg der Rondenbarg-Demo beschädigt wurden und eventuell Farbsprühereien auf dem Gelände der Firma Matthies verifizieren.

In Bezug auf die Bushaltestellen hatte sie Hinweise der Zivilbeamtin Groth. Sie selbst konnte nur an einer der Haltestellen eine Beschädigung feststellen, nämlich an dem kleinen Kasten aus Glas, wo die Fahrpläne aushängen. Der war laut Akten nahe der Autobahnzufahrt. Sie habe mit dem Verkehrsverbund HVV telefoniert und mit der Firma Wall, die die Häuschen an den Haltestellen in Hamburg betreibt. Sie bekam heraus, dass die Firma Wall die Beschädigung erst am 11.07. bemerkte und am 10.07. ein Kontrollgang ohne Registrierung eines Schadens an dem Fahrplanaushang stattfand.

Schäden werden von der Firma Wall zeitnah beseitigt – aber dass hier ein Schaden am 10.07. nicht da war, am 11.07. aber schon und es doch im Prozess um den Verlauf des 07.07. geht, fiel auch der vorsitzenden Richterin auf. Es wird ein Stadtplanausschnitt mit maschinenschriftlicher Eintragung der nicht vernehmungsfähigen Polizistin Groth gezeigt, wo sie zwei mutmaßlich „entglaste“ Haltestellen benennt.

Auf dem Gelände der Firma Matthies konnte die Zeugin keine Beschädigungen mehr feststellen. Gesprochen habe sie am 03.08. mit dem Geschäftsführer der noch keine Strafanzeige gestellt hatte und die Farbsprüherei einfach übermalen ließ. Ihm sei die Sache nicht so wichtig gewesen. An weitere Einzelheiten kann sich die Zeugin auf Nachfragen aller Prozessbeteiligten nicht erinnern.

Um 13:42 Uhr wird die Verhandlung für heute unterbrochen.