Prozessbericht 17 vom 13.06.2024

Alle Prozessbeteiligten sind anwesend: die drei Berufsrichter*innen, die drei ehrenamtlichen Richter*innen, die Staatsanwältin, die vier Verteidiger*innen und die beiden Angeklagten. Im Zuhörer*innenraum sind 18 Prozessbeobachter*innen. Darunter Journalist*innen sowie drei Polizeibeamte in zivil. Diese geben sich als Auszubildende aus Hamburg zu erkennen nachdem sie gefragt werden wie sie Handy und Getränke in den Raum bekommen haben. Die Anfangszeit der Verhandlung wurde einige Tage im Vorfeld um 30 Minuten nach hinten auf 10 Uhr verlegt. Die Verhandlung beginnt um 10:55 Uhr, da der Zug eines Angeklagten Verspätung hat.

Die Richterin Boddin beginnt mit der Verhandlung mit dem Verweis auf Paragraph 29 Absatz 2 StPO. Die Anwält*innen beider Angeklagten hatten am 07.06.2023 einen Befangenheitsantrag gegen den Schöffen Wegmann und die vorsitzende Richterin Boddin gestellt. Eine andere Landgerichtskammer wird über diesen innerhalb von zwei Wochen entscheiden. Währenddessen wird die Hauptverhandlung weiter fortgeführt. Hintergrund ist eine Beschwerde des Schöffen beim NDR über dessen Berichterstattung vom 31.05.2024.

Die Richterin schließt die Selbstleseverfahren der Urkundenlisten I, II und III eingeführt am 23.02.2024, 12.04.2024 und 25.04.2024 entsprechend Paragraph 249 Absatz 2 StPO.

Staatsanwältin Meesenburg folgt mit einer Erklärung, dass ein Bewurf der BFE Eutin im Kreuzungsbereich Schnackenburgallee/Rondenbarg mit Steinen, Pyrotechnik und Rauchkörpern nicht widerlegt ist. Damit reagiert sie auf eine Erklärung der Verteidigung vom 30.05.2024, dass gemäß den Angaben der Zeugen Janzer und Bruse (BFE Eutin) und eines Videos einer Wasserwerferkamera (HÜN 1 Front rechts) der durch Jokschat geschilderte Bewurf nicht stattgefunden haben kann. Staatsanwältin Meesenburgs Begründung beruht darauf, dass Janzer und Bruse kein gutes Blickfeld hatten sowie beschäftigt waren. Im Video wiederum sei zu sehen, dass die Beamten hektisch ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum holen, was für einen entsprechenden Einsatzbefehl durch Jokschat, ausgelöst durch einen Bewurf, spricht. Mit einem klassischen Überprüfungsauftrag (Festhalten, Aufstoppen, Kontaktaufnahme) der Gruppe sei das Verhalten nicht in Einklang zu bringen.

Anwalt Richwin stellt einen Beweisantrag, den Präsidenten des niedersächsischen Verfassungsschutz Dirk Pejril zu laden. Es gibt Grund zur Annahme, dass ein V-Mann des Niedersächsischen Verfassungschutzes an den Blockadeaktionen „Colour the Red Zone“ am 07.07.2017 teilgenommen hat. Er fuhr mit einer Gruppe aus Göttingen zum Gipfel, die er bereits vorher unterwanderte. Später wurde er geoutet. Einige der Festgenommenen am Rondenbarg hatten Göttinger Wohnsitz. Es ist daher zu prüfen, ob ein V-Mann an der Vorbereitung und Durchführung des „Schwarzen Fingers“ beteiligt war. Der Staat hätte dann mit selbst eine Strafbarkeit geschaffen, da sie sich ohne Individualvorwürfe allein auf die Schaffung einer bestimmten Außenwirkung stützt. Siehe dazu Indymedia-Artikel und Spiegel-Artikel.

Anwalt Schrage gibt eine Erklärung zum Zeugen Petereit ab, Fahrer des Führungsfahrzeuges der BFHu Blumberg, vernommen am 30.05.2024. Zwar sprach Petereit von Steinwürfen und drei akustisch wahrgenommenen Treffern am Fahrzeug, bezeugte aber gleichzeitig, dass die Lackschäden auf den Lichtbildern definitiv von anderen Einsätzen kommen. Schrage erinnert daran, dass die Verteidigung bereits am 22.02.2024 darauf hinwies, dass völlig unklar ist, von wann und von wem die Schäden kommen. Die Bestätigung des Zeugen Petereit, dass die auf den Lichtbildern festgehaltenen Kratzer am Auto nicht vom Einsatz am Rondenbarg herrühren, zeigt deutlich, dass die Ermittlungen der SOKO Schwarzer Block ungenau und ergebnisorientiert geführt worden. Sie versuchen mit diesen marginalen Sachschäden den missratenen Polizeieinsatz am Rondenbarg zu rechtfertigen und das obwohl die dokumentierten Lackkratzer nichts mit dem realen Geschehensablauf zu tun haben.

Schrage gibt außerdem eine Erklärung zum Zeugen Ritter, Hundertschaftsführer der BFHu Blumberg ab. Er hält fest, dass für Ritter Vermummung und Pyrotechnik kein Grund sind, eine Versammlung aufzulösen. Erst Steinbewurf hätte dies damals geändert. Eine entsprechende Durchsage gab es aber nicht. Der Bewurf sollte durch Zulaufen auf die Demo unterlaufen und die Straftäter festgesetzt werden. Das ist jedoch zu bezweifeln, da es nach Kennntis der Verteidigung keinen konkreten Tatvorwurf gegen auch nur einen Demonstrationsteilnehmer gibt. Außerdem wird festgehalten, dass Ritter bestätigt, dass kein Beamter verletzt wurde, aber Ermittlungsverfahren gegen Beamte seiner Hundertschaft wegen Körperverletzung eingeleitet worden. Dies steht im Widerspruch zur These, dass die Versammlungsteilnehmer*innen sich weitgehend selbstverletzt hätten, die Schöffe Wegmann gegenüber dem NDR kundtat. Schrage weist zudem daraufhin, dass Ritter von einem Fronttransparent berichtet, das mit einem Brett versehen gewesen wäre. Dies ist auf Videos und Fotos aber nicht zu erkennen. Auch kleinere Bretter, wie Ritter dann angibt, sind nicht belegbar. Im Gegenteil flattert das Transpi.

Anwalt Wedel gibt eine Erklärung zu den im Rahmen des Selbstleseverfahrens eingeführten EPS-Web-Protokollen der Polizei Hamburg ab. Er führt aus, dass die in ziviler Kleidung eingesetzten Beamten am laufenden Band detaillierte Meldungen zur Versammlung per Funk übermittelten. Nur keinen Bewurf. Ebensowenig hat die BFE Eutin einen solchen gefunkt. Es folgt daraus, dass es zu keinem Bewurf der Einsatzkräfte kam.

Ab 11:25 ist Mittagspause.
Die Verhandlung wird um 13:10 Uhr fortgesetzt.

Der Polizeibeamte Martin Nicko, 39 Jahre, damals erste Einheit der BFE Blumberg, heute Bundespolizeiinspektion Forst wird vernommen. Er beginnt zunächst mit seiner Schilderung des Geschehens: als sie in den Rondenbarg hineinfuhren, sahen sie eine andere Polizeieinheit mit Wasserwerfern und davor eine Personengruppe, vorwiegend schwarz gekleidet, kompakt und mit Transparenten, die ihnen entgegenkam. Als sie anhielten und „absetzten“, fand ein Bewurf statt mit Pyrotechnik und vereinzelten Böllern und Steinen. Dagegen sind sie „angerannt“, haben die Gruppe „aufgestoppt“ und „dingfest“ gemacht.

Die Personen sind von seiner Perspektive aus entweder nach rechts in ein Gebüsch, nach links zu einem Zaun oder nach hinten die Straße hinunter Richtung der weiteren Polizeieinheiten ausgewichen. Als die Lage „statisch“ war, wurde damit begonnen die Personen und Sachen zu durchsuchen, zu sortieren und zu „selektieren“. Die „Abarbeitung“ war Aufgabe der zweiten Einheit.

Die Richterin belehrt, dass es Hinweise auf Körperverletzung im Amt gibt und er sich nicht selber belasten muss. Damals habe er eine dienstliche Erklärung zu den Steinwürfen abgegeben.

Nicko erklärt, dass ein Stein vor ihm auf der Straße landete als sie gerade „in Formation“ auf der Straße standen, dieser auf dem Asphalt abprallte und dann gegen sein Schienbein oder Oberschenkel flog. Die Richterin weist darauf hin, dass in dem Vermerk keine Rede davon ist, dass ein Stein ihn getroffen hätte. Sie stellen fest, dass er bei der Videoauswertung einen Stein entdecken konnte, der ihn knapp verfehlte. Nicko räumt ein, dass er das dann wohl falsch erinnere. Keine Erinnerung hat er, ob Steine auf der Straße lagen. Ebenso verhält es sich mit Rauchkörpern. Vor ihm waren zwei weitere Autos, sodass er keine gute Sicht hatte.

Nicko führt aus, dass ihnen die geplante G20-Gegenaktion, per Fünffingertaktik Richtung Messegelände zu kommen und die Protokollstrecken zu blockieren, bekannt war. Die Einheiten wurden verschiedenen Fingern zugeteilt. Sie waren für den Schwarzen Finger zuständig. Sie sollten verhindern, dass die Aktivist*innen ihr Ziel erreichen.

Die Richterin schließt daraus, dass der Einsatz also kein spontaner war, sondern eine Lagebesprechung im Vorfeld stattgefunden haben muss. Nicko erwidert, dass er selbst an keiner Besprechung teilgenommen hat. Er erinnere sich auch nur, dass die Taktik bekannt war und Einheiten verschiedenen Gruppen zugeteilt wurden, aber nicht, ob sie auch der Farbe im Vorhinein zugeteilt wurden. Unklar bleibt, wann die Besprechung stattfand. Vermutlich einen Tag vorher?

Der Auftrag am Morgen des 07.07.2017 kurz vor 06:30 Uhr war jedenfalls den Finger zu stoppen, um die Blockade („Besetzung“) zu verhindern. Die Personengruppe sei durch vorherige Straftaten aufgefallen. Sie sollten die Personengruppe kontrollieren. Kontrollieren heißt aufstoppen und Anliegen klären. Auf die Nachfrage, wo sie aufgestoppt werden sollten beziehungsweise wo sich die Personengruppe befand, antwortet Nicko, dass dem Einsatzführer bekannt war, dass sie zum Rondenbarg sollen. Die Richterin fragt nach, ob Rondenbarg also kein Zufall war. Die Antwort bleibt trotz Nachfragen offen. Klar wird nur, dass es zumindest grob Richtung Rondenbarg gehen sollte, aber das Zusammentreffen dort gegebenenfalls Zufall war. Nicko sei jedenfalls nicht die richtige Ansprechperson dafür, denn diese Informationen bekam nicht er.

Danach wird sich das Video der BFE Blumberg angesehen. Nicko identifiziert sich auf diesem und erklärt, dass der Befehl „Pfeile“ bedeute, sich in einer bestimmten Formation aufzustellen, es sei kein spezifischer Auftrag.

Die Richterin erkundigt sich daraufhin, ob und wann es einen Auftrag gab loszulaufen. Nicko erwidert, solche Aufträge kann es vom Führer geben, sie können aber auch selbstständig loslaufen. In diesem Fall erinnere er sich an den Auftrag, das Werfen zu unterbinden und die Personengruppe zu stoppen. Die Richterin erkundigt sich nach einem Beweissicherungs- und Festnahmeauftrag und entsprechend strafprozessualen Maßnahmen, da sie ja eine BFE sind. Laut Nicko war augenscheinlich, dass es sich um Landfriedensbruch handelt, diesem mit einfacher körperlicher Gewalt begegnet wird und festgestellt werden soll, wer wo stand und wer also der „Landfriedensbrecher“ ist.

Richter Werner fragt, in welcher Situation er den Stein wahrgenommen hat, da er ja laut dienstlicher Erklärung den Steinwurf durch das Video erkannt hat. Nicko erwidert, er habe im Video erst gesehen, wo der Stein genau herkam und hinging, also insbesondere, dass er so nah bei ihm landete, aber dass er ihn trotzdem in der Situation vor Ort aus dem peripheren Blickwinkel auf halber Höhe gesehen habe. Richter Werner fragt nochmals nach dem Befehl „10er Pfeile“, Nicko erwidert, es bedeute sich in der Breite aufzustellen, sodass niemand um einen herum fließen kann, die Straße also blockiert ist.

Richterin Boddin hakt nochmal ein und erkundigt sich nach der Schutzkleidung. Es sei die klassische der Bereitschaftspolizei: Oberkörper, Frontseiten der Gliedmaßen sind geschützt, ebenso der Kopf durch einen Helm. Offene Stellen sind Lendenbereich, Nieren und der hintere Beinbereich.

Richter Pohl erkundigt sich nach der Art des Steins. Er sei groß genug gewesen, um ihn fliegen zu sehen.

Auf Befragung der Verteidigung gibt Nicko an, dass er nicht wahrgenommen habe, wer geworfen hat. Vom herausgebrochenen Zaunelement habe er erst per Funk gehört. Er sei 15 Meter davon entfernt gewesen. Ein weiteres Video der BFE Blumberg wird gezeigt. Bei Sekunde 19 sind zwei Polizisten zu erkennen, die einen Querbalken auf dem Rücken als Markierung tragen. Nicko hatte das selbe Symbol auf dem Rücken, gibt aber an, nicht auf dem Video zu sehen zu sein, da er am Heck des blauen PKWs „tätig“ war. Laut Nicko trugen einschließlich ihm fünf Beamte die Uniform mit dem waagerechten Balken. Befragt, was einfache körperliche Gewalt bedeute, gab Nicko an, dass ohne Werkzeug „gearbeitet“ wird. Tritte würden auch dazu gehören.

Der Zeuge Nicko wird unvereidigt entlassen.

Zeuge Jens Lohdal ist 65 Jahre alt und Polizeibeamter in Hamburg. Er trägt Uniform und wurde von der Verteidigung benannt, da er Einsatzführer des „Einsatzabschnitts Aufklärung“ während des G20 war und die Frage klären soll, ob zivil gekleidete Polizeibeamte im Finger mitliefen. Für ihn war es damals ein dreiwöchiger Einsatz, wo er in gewissen Tagen operativer Einsatzführer des „Einsatzabschnitts Aufklärung“ war. Er beklagt, dass die „Aufklärung“ sich schwierig gestaltete, da es „Gegenaufklärung“ gab, die seine „Aufklärer“ immer wieder ablenkten.

Am 07.07.2017 habe sein Dienst nach einer kurzen Nacht um 6 Uhr in der Befehlsstelle im Polizeipräsidium begonnen. Sie hatten die Erkenntnis, dass vom Camp aus mittels Fingertaktik in die Rote Zone vorgedrungen werden sollte. Auf dem Camp seien etwa 1500 Menschen gewesen. Vier Finger mit den Farben schwarz, rot, grün, gelb seien vom Camp aus gestartet. Durch seine „zivilen Aufklärer“ habe er gehört, dass der Schwarze Finger 200 bis 250 Personen groß gewesen sei und dass Anglerhüte getragen wurden. Es wurde mitgeteilt, dass Menschen aus dem Finger heraus Bushaltestellen angegriffen hätten. „No G20“ soll auf die Straße gesprüht worden sein. Kleinstgruppen hätten sich immer wieder gelöst und irgendwas gemacht. Mehrmals betont er: „Wir sind die Ohren und Augen des Polizeiführers“.

Seine Leute liefen nicht in Aufzügen mit. Das erlaube er nicht. Allein schon wegen Eigenschutz. In der Nähe des Schwarzen Fingers wären drei weitere Finger gewesen. Es sei zu einer Vermischung der Finger gekommen. Seine Kräfte – alle aus Hamburg – hätten keinen Bewurf gesehen. Er hätte davon mitbekommen. Bewurf ist „Prio 1“ und wird gemeldet. Zivile Aufklärungskräfte gab es nicht nur bei ihm im Einsatzabschnitt. Auch im „Einsatzabschnitt Einsatzkräfte“ und bei der Bundespolizei gab es „zivile Aufklärer“.

Der Zeuge Lohdal wird unvereidigt entlassen.

Die Staatsanwaltschaft bezieht Stellung zum Antrag der Verteidigung vom 30.05.2024. Darin hatte die Verteidigung die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens beantragt. Die Staatsanwaltschaft regt an, den Antrag abzulehnen, da das Gericht genügend Sachverstand hätte.

In einer weiteren Stellungnahme unterstützt die Staatsanwältin den Antrag der Verteidigung eine Person vom Verfassungsschutz aus Niedersachsen zu laden. Zum Beispiel den Vertrauenspersonen-Führer.

Die Sitzung wird für heute um 14:55 Uhr beendet. Der nächste Verhandlungstag soll am 27.06.2024 ab 9:30 Uhr stattfinden.